Hallo,
ich leide an Hyperhidrose an vielen Körperregionen, Hände und Füße sind leicht betroffen, Achseln schon etwas stärker und meine Nase auch :).
Viele der Probleme im täglichen Leben und im Umgang mit anderen Menschen (Beziehungslosigkeit usw.), teile ich mit den anderen Betroffenen, die sich in diesem Forum mitgeteilt haben. Aber auch ganz praktische Folgen habe ich erlebt, ich spiele nämlich leidenschaftlich gerne Basketball, die starke Reibung, die dabei im Schuh auftritt, führt bei feuchter Haut besonders schnell zu schmerzhaften Blasen und Schwielen. Marschieren bei der Bundeswehr war auch eine Qual :). Nachdem ich dann das Forum entdeckt habe, habe ich mich mit neuer Hoffnung beim Arzt untersuchen lassen und ALCL zugelegt. Die positive Wirkung ist schnell eingetreten und ich freute mich auf ein unbeschwertes Leben. Doch inzwischen sehe ich alles etwas anders.
Vor allem wenn ich alleine bin, besonders während des Naturerlebnisses, sei es beim Angeln oder beim Spaziergang durch den Wald, habe ich nie das Gefühl krank zu sein.
Ich habe mich entschlossen, kein ALCL mehr anzuwenden und zu versuchen ein positives Verhältnis zum Schwitzen zu entwickeln. Im folgenden würde ich einfach gerne versuchen meinen Gedankengang mit euch zu teilen :). Danke für die Geduld beim Lesen.

Es gibt zwei Formen von Hyperhidrose, die sekundäre HH und die primäre HH.
Die erstere ist ein Symptom und verschwindet meist, sobald die ursächliche Krankheit geheilt wurde. Die letztere bleibt, denn sie ist ihre eigene Ursache, ihr Zweck bleibt im Verborgenen und einen Nutzen vermögen wir ihr bei bestem Willen nicht abzuringen. Das verleiht ihr wiederum eine unglaubliche Kraft, die uns zunächst aus der Bahn wirft und uns betäubt, so als wären wir von einem schweren Schicksalsschlag getroffen, scheinen doch zunächst alle Aussichten auf ein erfülltes Leben vereitelt.

Das Fehlen der Ursächlichkeit im klassischen Sinn führt nun jedoch dazu, dass HH als Krankheit anerkannt wird, allein aus dem Grund, dass der Betroffene eine schwere Einschränkung im gesellschaftlichen Leben erfährt. Nun kann man zwar wissenschaftlich genau die Schweißmenge messen und psychosomatische Überlegungen anführen um das Krankheitsbild genau zu definieren (s. z.B. e-book "Hilfe ich schwitze" ) , denn diese Dinge verhalten sich proportional zu den sozialen Problemen des Leidenden und Proportionalität ist nun wirklich einer der einfachsten Zusammenhänge, aber letztendlich bleibt es der gesellschaftliche Maßstab allein, der uns die Hyperhidrose als Krankheit wahrnehmen lässt.

Der Vergleich als Sache an sich ist natürlich nichts schlechtes und steht als wohl wichtigste menschliche Denkweise immer Anfang jeder Erkenntnis, jedoch kann der Vergleich nie am Ende einer Erkenntnis stehen.
So hatten zum Beispiel die Bewungungsgleichungen in der Physik ihren Ursprung sicher in der einfachen Beobachtung, dass einige Dinge schneller oder schwerer sind als andere, letztendlich war es aber erst die Einsicht, dass Bewegungen unabhängig davon sind, ob ich in Metern oder in inches messe, die zum bekannten Gesetz von Masse und Beschleunigung führte.
Wieso sollte man sich nun aber, gerade wenn man über Hyperhidrose nachsinnt, mit der ersten Erkenntnis zufriedengeben. Man kann doch etwa leicht einsehen, dass bereits der Wechsel in einen anderen Kulturkreis zu einer starken Verschiebung der Sicht auf die Hyperhidrose führen würde.
Wie soll nun aber die weitere Erkenntnis aussehen? Reicht es nicht aus weiter an wirksamen "Gegenmitteln" zu forschen, bis schließlich der letzte Hyperhidrotiker "geheilt" ist?
Intuitiv muss man das verneinen, denn unser Verstand sagt uns, dass wir die Konsequenzen unseres Handels nicht abschätzen können, wenn wir das Problem noch nicht in aller Gänze verstanden haben. Wie sollen wir also nun vorgehen?

Dazu sollten wir weiter versuchen zu vergleichen, denn darin sind wir ja als Menschen, wie bereits erwähnt besonders gut. :)
Im Fernsehen sind in der vergangen Zeit häufig Dokumentationen über Schönheitsoperationen zu sehen. Betrachten wir also ein 18-jähriges Mädchen, dass eine Brustvergrößerung vornehmen lässt. Nehmen wir einen objektiven Standpunkt ein, so können wir Brustgröße oder auch die Menge der Schweißproduktion als einfache Merkmale des menschlichen Körpers betrachten und durchaus auf dieser Ebene vergleichen. Lassen wir dann auch noch ethische, moralische und medizinische Bedenken außer Acht, so werden sich trotzdem einige Menschen als Befürwörter andere als Gegner aussprechen, abhängig ob genug Empathie für die persönliche Lage des Mädchen vorhanden ist. Hier kommen wir nicht weiter.
Bemühen wir also einen eindeutigeren Vergleich.
Würden wir einem farbigen Mitmenschen raten, seine Hautfarbe aufhellen zu lassen, weil er Opfer von Dikriminierung wurde? Kaum jemand würde diese Frage mit ja beantworten.
Natürlich ist dieser Vergleich etwas provokativ, jedoch nicht wenn man Hautfarbe, wie Brustgröße und Schweißmenge lediglich als Körpermerkmal betrachtet.

Es ist jetzt sicher leicht nachzuvollziehen, dass ein Mensch, der auf einen anderen aus rassistischen Gründen herabsieht etwas gemeinsam hat mit dem Menschen, der herabschätzend die Schweißflecken eines Hyperhidrotikers betrachtet. Diese Gemeinsamkeit ist das Vorurteil.
Für das Opfer der Vorurteils spielt unterdessen das Motiv, aus dem das Vorurteil entstand, nur eine kleine Rolle.
Stellen wir uns also vor, dass alle Sorgen des Hyperhidortikers, seien es Hindernisse bei Partnersuche oder am Arbeitsplatz, soziale Ängste, psychische Auffälligkeiten, nichts anderes sind als die Folgen einer verkannten Angst vor dem Vorurteil, so stellen wir fest, dass dieses ein altes und in der Geschichte bekanntes Problem ist. Sicherlich kein kleines Problem oder ein leicht zu lösendes, aber doch in seiner Natur grundverschieden von dem einer Krankheit.
Fassen wir also die HH nicht mehr als Krankheit auf, so bleibt die Frage, wieso sich das Leben eines Betroffenen sich unterscheidet von derjenigen, die mit anderen Vorurteilen konfrontiert sind.
An dieser Stelle ist sicher zu bedenken, dass nur wenigen Hyperhidrotikern die Vorurteile offen entgegengebracht werden und vielmehr wie das sprichwörtliche Damoklesschwert über dem Leidenden schwebt. Vor allem aber ist an dieser Stelle eine genaue Betrachtung der uns eingeprägten Wertvorstellungen und dessen was wir als "normal" begreifen notwendig.
Die "Norm" ist in unserer Gesellschaft sicher ein zentraler Begriff und bedarf seit langem einer Überdenkung, einen Ansatz dafür liefert zum Beispiel das Fernsehmagazin "normal", dass regelmäßig im DSF läuft. Das würde hier aber zu weit führen....

Von diesem Standpunkt aus kann ich schließlich für mich nur noch eine Konsequenz ziehen.
Ich möchte umdenken. Ich möchte meine Entscheidungen nicht mehr danach richten ob jemand anderes meine Schweißflecken wahrnehmen kann oder nicht. Ich möchte mich nicht hinter dem Begriff einer Krankheit verstecken. Ich möchte kein ALCL mehr benutzen. Ich wünsche mir mehr Mut meine Persönlichkeit so zu entwickeln, dass ich ein gesundes Verhältnis zu mir selbst erlange und damit ein bisschen mehr zur Vielfalt in dieser Welt beitragen kann. Auch wenn das bedeutet sich mit aller Kraft gegen die Gesellschaft zu stemmen um mich von der Angst vor Vorurteilen zu befreien. Schließlich kann ich nur so meine persönliche Freiheit und Würde bewahren. Ich bin nicht bereit die Ketten, die andere mir anlegen gegen einen goldenen Käfig einzutauschen. :)
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Hallo Kivan!

Ich fand es ziemlich interessant, deine Gedanken zu lesen und kann jetzt auch nicht sagen, dass daran irgendwas richtig falsch wäre in meinen Augen. Ich habe selbst neulich mal darüber nachgedacht, auf das AlCl zu verzichten, zumal mich das kompensatorische Schwitzen zur Zeit sehr belastet. Aber ich glaube, ich habe nach so vielen Jahren vergessen, wie unangenehm es war, so richtig schlimm an Händen und Füßen zu schwitzen. Ich habe jetzt das AlCl nur noch jeden zweiten Tag angewendet, und nun sind die Handflächen noch einigermaßen okay, aber die Füße waren heute so nass, dass ich stark an deine Blasengeschichte denken musste, obwohl ich nur eine Stunde lang einkaufen war.

In solchen Momenten rege ich mich wieder ziemlich stark auf über meine Krankheit und schwitze dadurch natürlich noch mehr :( Es hat dann aber nichts mit der Angst vor Diskriminierung zu tun, weshalb dein Vergleich in diesem Punkt nicht funktioniert, zumindest bei mir nicht. Ich schwitze auch oft sehr stark, wenn ich allein zu Hause bin.

Im Übrigen habe ich einen tollen Lebenspartner und auch eine gute Arbeit gefunden.

Ich finde es gut, wenn du es schaffst, auf AlCl zu verzichten, und ich finde es auch richtig und sehr wichtig, anderen Menschen Mut zu machen, denn ich bin überzeugt davon, dass auch dieses Medikament Nebenwirkungen hat, aber dennoch bin ich nicht der Meinung, dass man mit AlCl automatisch seine Würde verliert oder dass es falsch sei, die HH als Krankheit zu betrachten. Ich habe neben dieser Krankheit auch noch diverse Allergien, die zugegebener Maßen von der Gesellschaft besser akzeptiert werden als die HH, aber beide Krankheiten bestimmen mein Leben - genauso wie mein Charakter, mein Aussehen etc. ganz egal, ob ich dagegen Medikamente nehme oder nicht.
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